Nachdem ich mehrfach die „Hardangervidda“ und die „Kungsleden“ begangen hatte, wollte ich mich in ganz anderen Gegenden umsehen. Da Norwegen ein Paradies dafür ist, spielten aber auch andere Faktoren eine Rolle. Wichtig war mir vor allem, eine direkte Verbindung von Berlin aus und eine entsprechende Infrastruktur vor Ort zu haben. Beides spielt eigentlich zusammen. Denn wenn es von Berlin aus eine Direktverbindung gibt, ist der Zielort entsprechend groß. So kam ich auf Trondheim, die Flugdauer beträgt etwas über eine Stunde mit Norwegian (www.norwegian.com).
Als zentrale Stadt im „südlichen“ Mittelnorwegen findet sich eine optimale Anbindung mit Bus und Bahn. Und genau das ist die Eintrittskarte in sechs verschiedene Nationalparks. Von Trondheim aus werde ich mit dem Zug nach Süden fahren und in „Kongsvoll“ aussteigen, einer der möglichen Eingänge nach „Dovrefjell“. Ich könnte aber auch im Zug sitzen bleiben und später aussteigen, dann wäre ich im „Rondane“ oder „Jotunheimen“ usw.
Es sollte aber beachtet werden, dass es ab einem bestimmten Punkt Sinn macht, die Zugfahrt von Süden her anzutreten, denn sonst wird von Norden aus die Zugstrecke zu lang. Dann würde man einfach nur nach Oslo fliegen müssen und den entsprechenden Zug nach Norden in Richtung Trondheim nehmen. Den Oktober habe ich als Jahreszeit absichtlich gewählt. Die Gründe dafür sind: Nebensaison und Wetterlage. Ich mag es nicht zu warm und auch das ist es in Norwegen mal ganz gern.
Vorbereitung:
Nichtsdestotrotz können die Nächte auch schon recht frisch werden, mein Yeti-Schlafsack deckt nur den Bereich (Männer) bis +5 °C ab. Ich wollte mir schon längst einen für den knappen Minusbereich kaufen, aber mein Wunschschlafsack ist ständig ausverkauft. So begnüge ich mich mit dem „Reactor“ von Sea To Summit. Vom Aufbau her nichts anderes als ein Hüttenschlafsack, durch seine Hohlkammerfaser jedoch deutlich effektiver, laut Hersteller bringt er bis zu weitere 9 °C an Wärmeleistung – es wird sich zeigen, ob er dies schaffen wird.
Die Ausrüstung, die ich zu Hause verpacke, unterscheidet sich sehr stark von meinen bisherigen Touren. Kurz vor der „Dovrefjell“-Tour konnte ich als Teilnehmer einer Outdoor-Academy viel Equipment vor Ort testen. Danach konnten wir das meiste sogar käuflich erwerben, was ich tat. So nutze ich zwar sehr hochwertiges Equipment, aber von mir noch nicht vollends erprobtes. Eine komplette Ausrüstungsliste der Tour findet sich hier.
Anreise:
Vom alten Flughafen Schönefeld geht der Flieger gegen Mittag nach Trondheim, dort angekommen nehme ich den Bus in die Innenstadt und steige bei „Rosengarten“ aus. Mein Weg führt mich den Hügel hoch zum YHA (Youth Hostel). Das in Trondheim ist nagelneu und in einem top Zustand. Den ersten Tag verbringe ich meist am Einstiegsort. Gas kaufen, Ausrüstung umpacken und eventuell Vergessenes nachkaufen steht dann immer auf meiner To-do-Liste. Im Zentrum gibt es etliche Sport- und Outdoorläden, bei denen ich schnell fündig werde. Nebenbei entdecke ich den „SuperHero Burger“ und wer sich solch einen Namen gibt, muss getestet werden. Seitdem bin ich dort Stammgast.
Die Pommes werden unter anderem mit Rosmarin serviert, das allein gibt 5 Sterne von mir. Im Hostel verpacke ich nochmals neu, lasse den Duffel mit Stadtkleidung und anderem Kram zurück und begebe mich am nächsten Morgen zum Bahnhof.
Tag 1 – Ankunft im Dovrefjell:
Zug Nummer 1 fährt schon gegen 7:20 Uhr ab, aber so bin ich bereits gegen kurz vor 10:00 Uhr in „Kongsvoll“. Zwar fällt das Aufstehen etwas schwer, aber so habe ich einen vollen Wandertag vor mir.
Mit leichter Verzögerung komme ich am Ziel an. Es ist tatsächlich nichts außer der Bahnstation vorhanden. Aber diese hat sowohl einen beheizten Warteraum als auch eine einfache, aber saubere Toilette. Da ich den kleinen Weg über die Brücke hinter mir nicht wahrnehme, laufe ich etwas weiter nach Süden. Die Karte sagt, dass ich dort rechts abbiegen muss. Gesagt getan, direkt neben den Schienen entlang. Komplett bescheuert, das ist mir schon in diesem Moment klar, aber es passiert nichts. Kurz danach finde ich den „Eingang“ und ein Schild warnt vor Moschusochsen. Mein Plan für diesen Tag ist, die erste Hütte zu erreichen, was etwa 16 Kilometer entspricht.
Ein bewölkter Himmel und eine frische Brise erleichtern mir das Laufen. Wie schon gesagt, ich mag keine hohen Temperaturen und das hier ist genau richtig. Wasser gibt es wie üblich im Überfluss, so muss ich kaum Wasser tragen und kann jederzeit auffüllen. Es ist ein typisches Fjell-Areal. „Kongsvoll“ selbst liegt auf knapp 870 Höhenmetern und kurz nach der Station geht es weiter, seicht, nach oben. Ich folge dem Fluss auf der rechten Seite und die Kilometer fliegen nur so dahin. Zum ersten Mal laufe ich auch mit GPS. Nachdem ich einige Monate zuvor in Island mehrere Stunden im Whiteout laufen musste, habe ich mir ein GPS-Gerät zugelegt. Es wird mir hier mehrfach sehr gute Hilfe leisten.
In der Ferne vor mir kann ich leider dicke, dunkle Wolken erkennen. Dort regnet es bereits. Mein Weg wird mich genau dorthin führen und der Gegenwind lässt mich vorsorglich auf Regensachen wechseln. Ich hasse Regensachen, meist schwitzt man mehr darunter, als von oben Wasser kommt. Dieses Mal habe ich jedoch die „Bergans Slingsby“ dabei. Diese Jacke arbeitet mit einer „Dermizax“-Membran und ist vollkommen anders konstruiert als die üblichen Gore-Tex-Jacken, bei denen die mikroporöse Membran aufgrund ihres Aufbaus „verstopfen“ kann. Bedeutet: die kleinen Löcher, die eigentlich die Atmung ermöglichen, sind dicht, ergo, keine Atmung. Dagegen arbeitet die „Dermizax“ mit hydrophilen und hydrophoben Materialien. Der Wasserdampf wird von innen „angezogen“ und über das Material selbst nach außen abgegeben. Diese Konstruktion besitzt somit keine „Löcher“, die verkleben, verstopfen oder sonst wie aufhören könnten zu atmen. Es ist sogar so, dass die Membran bei erhöhter Wärmeabgabe aktiver wird, sich also mit anpasst.
Mit besagter Jacke laufe ich also in den Nieselregen hinein, aber es ist weit weniger, als ich dachte. Nun kommt der Clou für mich, ich schwitze eben nicht. Für mich ist das äußerst ungewöhnlich, denn normalerweise gebe ich Unmengen an Wärme/Wasserdampf ab. Deswegen ja auch der Oktober. Nach ein paar Stunden des Laufens und ein bis zwei kleineren Pausen erreiche ich „Reinheim“. Die erste Hütte der Tour und sehr beliebt für Wochenendausflügler. Diese gehen für gewöhnlich die Route „Kongsvoll“ à „Reinheim“ à „Snoheim“ oder umgekehrt. Da sich die 16 Kilometer bis hier sehr einfach anfühlten , beschließe ich, weiter bis „Amotsdalhytta“ zu gehen. Dies werden weitere neun Kilometer sein und diese sollten entsprechend schnell erledigt sein. Ursprünglich wollte ich von Reinheim aus den Snohetta „besteigen“, aber ich konnte den ganzen Tag noch kein einziges Mal eine Spitze erkennen. Die Wolken sind einfach zu dicht.
Ich pausiere vor einem kleinen Anstieg und presse mich zwischen Felsen. Der Wind hat weiter zugenommen und ich bin etwas genervt, dass dieser mir nicht eine Minute Ruhe gönnen will. Auf dem kleinen Hügel angekommen, kann ich in der Ferne bereits die Hütte erkennen, die mein Tagesziel sein wird. Das Areal ist etwas steinig und der „Hans guckt in die Luft“ würde sich hier schlecht machen. In semi-konzentriertem Modus laufe ich den Hügel hinab und vor mir kreuzt eine kleine Herde Rentiere den Weg. Erschreckend, wie gut diese Tiere an die Landschaft angepasst sind. Zwischen Moosen, Gräsern und Steinen geht ihre Fellfarbe vollkommen unter.
Ankunft bei der Hütte:
In „Amotsdalhytta“ bin ich nicht der erste Besucher. Ein Pärchen kommt hinaus und wir plaudern ein wenig. Sie haben bereits einige Tage hier im Dovre verbracht und das Wetter meinte es nicht sonderlich gut mit ihnen. Die beiden sind pitschepatschenass und bleiben deshalb in der Hütte. Mein Plan war lediglich, die Hütten als Tagesziel zu nutzen und dann außerhalb zu campen. Wieder dieses „Just-in-case“-Szenario. Auf die Frage, von wo aus ich gestartet bin, werde ich nur ungläubig angeschaut. Die beiden brauchten dafür drei Tage. Wie sich herausstellt, ist es für die beiden aber auch die erste Tour dieser Art. Also jeder wie er will und kann.
Ich nutze die Hütte als Windschutz für mein Zelt, denn der Wind hat noch immer nicht nachgelassen. Eigentlich muss ein Mindestabstand von 200 Metern eingehalten werden. Aber in der Nebensaison ist das auch mal drin. Da ich den Tag über noch einige Höhenmeter hinter mich gebracht habe, schlafe ich hier auf ca. 1.300 Höhenmetern. Mir ist klar, dass es deutlich kälter werden wird. So kommt der „Reactor“ am ersten Abend gleich zum Einsatz. Nach einer leckeren Mahlzeit – REAL Turmat, wie so oft – spiele ich Tetris im Zelt und befinde mich etwa auf Level 10, als es in den Schlafsack geht – Übung macht den Meister. Das Inlett ist zwar praktisch, aber auch etwas nervig.
Tag 2:
Am nächsten Morgen werfe ich zugleich den Kocher an für den ersten Tee des Tages (ich hasse Kaffee). Die Sonne knallt aufs Zelt und die Pfützen und Wasserstellen sind oberflächlich gefroren. Die Nacht war frisch, aber angenehm. Irgendwas unter 0 °C wird es also gewesen sein. Am Himmel ist nicht eine Wolke zu erkennen und auch der Wind ist endlich eingeschlafen. Das lässt auf einen ziemlich guten Tag hoffen. Als das Pärchen aus der Hütte kommt, meinen die beiden, dass dies der bisher schönste Tag sei. So beschließe ich, meinen Plan etwas zu ändern. Ich werde einfach von dieser Seite den „Snohetta“ besteigen. Gekennzeichnete Routen gibt es auch von hier.
Ich verpacke meinen Krempel, lasse das meiste aber an der Hütte zurück und laufe los. Der anfängliche Anstieg ist kaum der Rede wert, als ich jedoch bei etwa 1.800 Höhenmetern die Altschneefelder erreiche, wird es ungemütlicher. Durch die starken Winde ist der Schnee sehr fest und verharscht. Mir wird klar, dass der Abstieg gewiss keinen Spaß machen wird. Einige um mich herum laufen in einer Seilschaft, so weit wäre ich hier nun nicht gegangen, aber okay. Steigeisen sind aber auf der Route, über rechts, keine schlechte Idee. Hab ich leider nicht, Pech. Die ganze Zeit über weht hier oben bereits eine steife Brise von Westen her. Oben angekommen wird es natürlich nicht besser, aber dafür entschädigt die Aussicht –wow! Das hat sicher mehr als gelohnt.
Die Rundumsicht ist einfach genial. Ich blicke in alle Richtungen bis zum Horizont, kaum eine Wolke beeinträchtigt meine Sicht. Ich bleibe einige Minuten. Hier oben gibt es noch eine Wetterstation, eine verschlossene Hütte und einen Hubschrauberlandeplatz. An allen Gebäuden bilden sich bizarre Eiskreationen, geschmiedet durch Wasser, Wind und Temperatur. Ich vertilge eine halbe Schokolade und beginne wieder den Abstieg. Wie erwartet, wird dieser über die vereisten Flächen schwierig. Schräg abfallendes Gelände, nur einen sicher stehenden Fuß und der zusätzlich drückende Rucksack führen zu manchem Ausrutscher.
Rutschige Angelegenheit:
Der Versuch, sich mit der Hand abzufangen, führt zu mancher Schnittwunde, bedingt durch das Eis. Nun hätte ich auch gerne Steigeisen, aber nach einer Stunde des Absteigens bin ich wieder auf Felsen angekommen. Hier pausiere ich an einem kleinen Bach, der durch die oberen Eismassen gespeist wird. Von hinten kommen weitere Leute den Berg hinab und auch ich setze meinen Weg weiter fort. Mein GPS zeigt für heute 14 Kilometer an und etliche hundert Höhenmeter. Ich sammle mein Zeug ein und schlage erneut mein Camp auf.
Natürlich hätte ich auch einfach alles stehenlassen können, aber irgendwie wollte ich das nicht, zu wertvoll erschien mir mein schönes neues Zelt. Die zweite Nacht wird wie die erste verlaufen, ich spiele im Zelt Tetris mit meinem Gepäck, die Temperatur fällt unter 0 °C und ich schlafe wie ein Baby.
Tag 3:
Die Sonne weckt mich recht früh und ich bereite mir mein Frühstück zu. Wie immer gibt es Müsli, welches ich in zwei verschiedenen Mischungen mit mir führe. Müsli bleibt hier draußen einfach unschlagbar, wenn es darum geht, möglichst viele Kalorien zu vertilgen. Meine Strecke hat heute „Grovudalshytta“ als Ziel. Laut Karte muss ich etwa 23 Kilometer bis dahin einplanen. Ein bisschen zu wenig wie ich finde und ich beschließe, die Strecke um eine südliche Komponente zu erweitern. Am Himmel ziehen sich nun Wolken zusammen, aber Regen ist nirgends erkennbar. Da meine Gesamtdistanz nun auf über 30 Kilometer angestiegen ist, laufe ich meist zwei Stunden und mache dann eine Pause.
Den ganzen Tag über werde ich keinem einzigen Menschen begegnen und das Fjell für „mich“ haben. Auf meinem südlichen Schlenker angekommen, erreiche ich ein Trogtal – geformt durch sich hindurchschiebendes Eis, ist es weit und platt. Farblich könnte es diese Gegend sicher mit dem Indian Summer aufnehmen, nur leider steht hier kein einziger Baum. Die flachen Sträucher und Büsche übernehmen stattdessen den Tuschkasten. Von Ocker über rostiges Braun und Rot wechseln die Farben sich stetig ab. Dass sich hier nun auch die Sonne blicken lässt, verstärkt die Szenerie.
Ich folge einem Fluss nach Norden und verbleibe an einem kleinen Wasserfall für eine größere Pause. Etwa eine Stunde vertrödele ich an diesem zauberhaften Platz, bis ich mich wieder überwinden kann, mir die Schuhe anzuziehen. Und immer weiter Richtung Norden. Zwei Seen kurz nacheinander kosten mich unglaublich viel Zeit. Für je einen Kilometer benötige ich jeweils eine Stunde. Die Ufer, an denen ich entlang muss, bestehen ausschließlich aus Gesteinsbrocken. Es geht ständig nur links, hoch, rechts, runter und wieder von vorn. Den einen oder anderen Fluch muss ich leider auswerfen. Zwar kenne ich solche Abschnitte, zwei davon kurz nacheinander waren mir jedoch einer zu viel.
Ganz allmählich beginnt es auch schon, dunkler zu werden. Nicht viel, aber spürbar. Nachdem ich endlich die zwei Seen hinter mir habe, erreiche ich ein großes Altschneefeld. Der markierte Weg führt mich teilweise genau hinüber. Später verliert er sich und ich brauche ein wenig, bis ich mich entschieden habe, welchen Weg ich als passend befinde. Rechts, außen herum würde mich viel Zeit kosten. Weiter über das Schneefeld ist schneller, aber wehe dem, ich rutsche weg. Unten erwartet mich Fels, auf den ich direkt aufkommen würde. Ich entscheide mich für den Abstieg über Schnee, laufe schräg hinab und stoße mir kleine Stufen in den Schnee, das klappt besser, als ich dachte. Über den kleinen Abstieg konnte ich bereits das Tal erkennen, in dem die Hütte liegt. Leider erst im hinteren Teil.
Zeitmanagement:
Es wird nun deutlich dunkler, aber noch brauche ich keine Lampe. Im Tal stehen überall Bäume – mitten im Indian Summer –, die Lichtverhältnisse verhindern jedoch, dass ich die Farbenpracht vollends genießen kann. Mein Weg führt mich unbeirrt durch das gesamte Tal. Mehrfach hätte es wunderschöne Fleckchen gegeben, um das Zelt aufzuschlagen, aber ich bin zu sehr darauf versteift, die Hütte als Tagesziel zu erreichen. Dabei habe ich alle Zeit der Welt, ich bin allein und habe ausreichend Tage zur Verfügung, und dennoch will ich die Strecke schaffen.
Trotz deutlich erhöhten Tempos muss ich mir auf halbem Weg durch das Tal eingestehen, dass ich die Hütte so nicht mehr erreichen werde. Ich setze meinen Rucksack ab, krame nach meiner Stirnlampe und es geht weiter. Als die Rechtskurve im Tal beginnt, suche ich nach der Hängebrücke, die sich hier befinden soll. Zwar komme ich an eine Brücke, aber diese verdient den Namen gar nicht, vollkommen kaputt, zudem auch keine Hängebrückenkonstruktion. Aber ein paar hundert Meter später stehe ich vor ihr. Stockfinster, wackelig, laufe ich über sie hinweg. Auf der anderen Seite muss ich nun weitere zwei bis drei Kilometer laufen. Die Muskeln kribbeln, das war ihnen dann doch ein wenig zu viel, geben sie damit zu verstehen. Allein die Karte hilft mir nun auch nicht mehr weiter. Zu schwer ist es, dem normalen Wegen zu folgen, denn hier gibt es etliche.
Die Abzweigungen verwirren mich und ich hole das GPS raus. Mit elektronischer Hilfe komme ich an eine Hütte, leider die falsche. Es ist eine der privaten, die auch die vielen Abzweige produzieren. Aber 200 Meter weiter stehe ich endlich vor Grovudalshytta, zumindest dem Toilettenhaus, wie sich dann herausstellt. Ein paar Meter weiter steht das Haupthaus. Ein imposantes, zweistöckiges Holzhaus. Mein GPS zeigt fast 32,5 Kilometer an. Die Lust, jetzt noch mein Zelt aufzubauen, ist längst unter Null und ich ziehe in die Hütte. In dem großen Haus bin ich allein und das Knarren des Holzes lässt manch seltsame Vermutung aufkommen. Verfluchte Hollywoodfilme, wieso müssen sämtliche Irren immer abseits von allen in der tiefsten „Wildnis“ wohnen? Ich trinke einen Tee nach dem anderen, schieße ein Selfie, um meinen Zustand zu betrachten – ohje, gleich wieder löschen, und gehe schlafen.
Tag 4:
Obwohl der Vortag lang war, ich in einer Hütte liege und ein Bett habe, war die Nacht absolut miserabel. Mein Zelt hätte mir wohl eine bessere Nacht beschert, aber dazu war ich einfach zu platt. Ein Blick aus dem Küchenfenster zeigt mir den nächsten schönen Tag an. Bis zur Spitze des Tales ist die Sonne bereits gekommen, aber es wird noch bis zu einer Stunde dauern, bis auch ich sie spüren darf. Ein Schritt vor die Tür zeigt mir zudem, wie groß das Gebiet hier ist. Es gibt etliche Hütten und wie ich später herausfinde, wird hier die alte Sennertradition gepflegt und weitergegeben. Norwegische Schüler können hier im Sommer einige Zeit verbringen und dabei mithelfen, Käse zu machen oder sich allgemein um die Tiere zu kümmern.
Hinter dem Haupthaus gibt es eine große Brücke, die mich auf das rechte Ufer bringt, dem ich nun einige Zeit folgen werde. Ich bin bereits auf den letzten Kilometern im Dovrefjell und bewege mich auf Trollheimen zu. Auch diesen Park wollte ich noch durchqueren, aber am rechten Fuß habe ich einen Schmerz, den ich leider nicht recht deuten kann. Keine Blase, Scheuerstelle oder dergleichen. Nach einiger Zeit habe ich mich eingelaufen und vergesse den Schmerz. Auf den letzten Metern im Park befindet sich ein kleines Holzhaus. Mit Toilette und kostenlosen Isomatten, falls jemand draußen nächtigen muss. Ein Parkplatz und Infotafeln zeigen an, dass hier sowohl Anfang als auch Ende des Parks ist.
Von nun an muss ich einige Kilometer auf festem Untergrund laufen. Es gibt einige Dinge, die ich nicht mag: Mit Trekkingschuhen auf Asphalt zu laufen, gehört ganz sicher dazu. Die Höfe der Bauern entschädigen jedoch etwas den miesen Weg, aber anders komme ich nicht nach Trollheimen. Mein Ziel ist „Eriksvollen“ über Vangshaugen. Der Weg fordert seinen Zoll, denn noch immer bin ich auf festem Untergrund unterwegs. Der rechte Fuß schmerzt immer mehr und mir ist vollkommen unklar, wie ich mein Ziel überhaupt erreichen soll. Bei jedem Schritt schmerzt er nun. Die Hütte Vangshaugen ist zu dieser Jahreszeit bereits verschlossen. So bleibe ich einfach draußen am See und gönne mir eine sehr lange Pause. Schuhe aus, Socken aus, Kocher raus, Wasser an. So in etwa ist das Prozedere. Ich esse und trinke reichlich.
Hello Trollheimen:
Noch mehr Zeit widme ich jedoch meinen Füßen. Oft werden diese vergessen, sind aber mit Abstand das meistbeanspruchte Körperteil. Die ein oder andere Stelle hatte ich bereits vorsorglich getapt. Ich neige zum Glück nicht zu Blasen, aber sicher ist sicher. Da meine Hanwag Alaska nagelneu sind (die anderen hatte es bei der ersten Tour in Island schon zerlegt, sie wurden umgehend ausgetauscht), hat sich zu meinem Erstaunen tatsächlich eine Blase gebildet. Bei dem Thema scheiden sich natürlich die Geister und wer sich in Foren umschaut, wird die Argumente bereits kennen. Die einen schrecken in jedem Fall vor dem Öffnen zurück, „Infektionsgefahr“ usw. Die anderen handhaben es so wie ich. Es geht schließlich nicht ums Abschneiden der betroffenen Haut. Es wird nur ein kleiner Schnitt vollzogen, um das Wasser ausdrücken zu können. Die nächsten Tage wird der Schmerz jedenfalls nicht wieder auftauchen und ich kann beruhigt meine Streckenlängen planen.
Weiter geht es nach Norden in ein Gebiet mit jeder Menge Sommerhütten. Es fühlt sich an wie in einem Spinnengewebe. Überall zweigen Wege ab und unwillkürlich nehme ich die falsche Abbiegung. Als mir mein Fehler klar wird, will ich nicht zurücklaufen. Stattdessen laufe ich cross-country über Stock und Stein. An einer Stelle ist sogar etwas Klettern notwendig, was sich mit einem 20-kg-Rucksack nicht ganz einfach gestaltet. Hier schwitze ich mir die Seele aus dem Leib, komme aber wieder auf den richtigen Trail. Ein Stückchen geht es noch hinauf und anschließend auf einem kleinen Plateau relativ platt weiter. So langsam meldet sich der innere Drang, eine Toilette aufsuchen zu müssen. Aber hey, wieso sollte hier oben schon eine stehen. Ein paar Meter weiter stehe ich vor einer Hütte, mit Toilette.
Keine Ahnung, wieso sich hier oben jemand auf 800 Höhenmetern eine Hütte hinstellt, aber ich bin dankbar, dass er seine Toilette nicht verschlossen hat. Mit dem langsamen Abstieg der Sonne beginnt es auch, wieder kühler zu werden. „Eriksvollen“ liegt im nächsten Tal, für mich bedeutet dies, entweder hier oben zu bleiben oder abzusteigen. Die Entscheidung ist schnell gefallen und ich beginne in der Dämmerung meinen Weg nach unten. Auf halber Strecke muss ich die Stirnlampe anwerfen und steige nun bei „Nacht“ weiter ab. Hätte ich hier die Verantwortung für eine Gruppe, ich wäre oben geblieben. Der ausgedünnte Pfad wird immer wieder von Rinnsalen gekreuzt, entsprechend rutschig ist der Untergrund.
Hin und wieder verliere ich auch den Trail, da die Markierungen nur noch schwer zu finden sind in der Dunkelheit. Wieder schwitze ich ohne Unterlass. Der Abstieg auf rutschigem Gelände, die stetige Suche nach dem Weg und die allgemeine Anstrengung fordern einfach ihren Tribut. Zum Glück gibt es genügend Wasser auf dem Weg nach unten und ich tanke ständig nach. Als ich unten aus dem Wald komme, stehe ich mehr oder weniger auf Privatgelände, diese Straße liegt gleich am Haus und es ist eh Nacht. So hoffe ich einfach darauf, dass es keinen Hofhund gibt und laufe rüber zur Straße.
Mein Plan hatte zwar nicht vorgesehen, wieder bei Nacht anzukommen, aber nun ist es so. Ich folge der Nebenstraße bis zur „Riksvei 70“, an deren Brücke gibt es leider keinen extra Weg für Fußgänger oder Radfahrer, also laufe ich in der Dunkelheit bei Verkehr über die Brücke. Meine Stirnlampe habe ich sicherheitshalber auf maximale Leistung gestellt. Hinter der Brücke geht es in einer Rechtskurve unterhalb der großen Brücke entlang und zack, laufe ich am Trail vorbei. Dieses winzige Schild haben sicher schon viele auch am Tag verpasst. Als es mir spanisch vorkommt, laufe ich die Straße zurück, nun fällt es auch mir auf.
Wieder gibt es einen kleinen Anstieg, über satte Wiesen, auf denen dicke Schafe weiden. „Eriksvollen“ liegt mitten im Schafgebiet. Mir dämmert schon, dass Wasser nun ein Problem sein könnte. So suche ich das Gelände ab und finde einen dicken Schlauch mit Hahn. Sie zapfen also Wasser oberhalb des Schafareals ab, um sauberes Wasser an der Hütte zu haben, clever diese Norweger und mein Hauptproblem ist schon gelöst. Der Tag schlägt den Vortag noch um Längen, knapp 34 Kilometer und 1.007 Höhenmeter zeigt das GPS an. Ich wasche mich, bereite mein Essen zu und gehe schlafen.